60 Jahre Römische Verträge – Chaostage am Kapitol

Magazin zur Europawoche 2017

Magazin zur Europawoche 2017

Die Europawoche in Hamburg bietet jedes Jahr im Mai zahlreiche Anlässe, sich mit Themen der Europäischen Union und generell mit politischen und kulturellen Themen auseinanderzusetzen. Das Programmheft sammelt nicht nur die Veranstaltungen der Europawoche, sondern versucht auch, die Bezüge zwischen der Hansestadt und der EU herauszuarbeiten. 2017 steht das Heft unter dem Eindruck des nahenden G20-Gipfels in den Messehallen, aber auch der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren. Letzteres war eine denkwürdige Veranstaltung, die bereits vieles von dem widerspiegelte, was Europa bis heute ausmacht. Ich habe für das Programmheft, neben anderen Geschichten, einen kleinen Text über den damaligen Gipfel geschrieben.

 

Chaostage am Kapitol

Die Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren markiert die Geburtsstunde der Europäischen Union. Die Zusammenarbeit der Nationen begann eher holprig. Und wohl mit jeder Menge unbedruckter Seiten.

In Rom regnete es in Strömen, als sich die Regierungschefs von Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg und West-Deutschland am Abend des 25. März 1957 auf dem Kapitolshügel zur Unterzeichnungszeremonie versammelt hatten. Im prächtigen Horatier-und-Curiatier-Saal, heute Teil der Kapitolinischen Museen, unterschrieben sie vor 500 Fotografen drei Verträge: einen über die Einrichtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), einen über die Gründung einer Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) sowie das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften.

Ein historisches Ereignis, denn die Verträge bilden das Fundament einer überstaatlichen Organisation in Europa, der heutigen EU. Trotzdem war der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nicht gut aufgelegt. „Ich weiß nicht einmal, was ich alles unterschrieben habe“, soll er gestöhnt haben. So jedenfalls verbreitete es damals Der Spiegel, der sich nie eine Spitze gegen den Kanzler entgehen ließ. Doch was auch die Hamburger Journalisten nicht ahnten: Die großen dekorativen Papierstapel, auf die die Staatsmänner ihre Unterschriften gesetzt hatten, bestanden wohl größtenteils aus unbedruckten Blättern. Das war keine böse Absicht, sondern Resultat einer Kette unglücklicher Ereignisse.

Europa, das leere Blatt

Europa, das leere Blatt

Albert Breuer war Mitarbeiter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), einer ersten Keimzelle Europas, die den Markt für Kohle und Stahl regulierte. Im Frühjahr 1957 war er unter anderem dafür zuständig, die Zeremonie in Rom wie geplant über die Bühne zu bringen. Vor einigen Jahren enthüllte er, wie es dabei drunter und drüber ging.

Während der Tag der Unterschrift immer näher rückte, stritten die Experten im fernen Brüssel immer noch über letzte Formulierungen. Vor 60 Jahren, als es noch kein Internet und kein Fax gab, stürzte das die Mannschaft in Rom nach und nach ins Chaos. Jedes Mal, wenn auf dem Kapitolshügel das Telefon klingelte, mussten wieder Passagen in den Vertragstexten erneuert, in vier Sprachen übersetzt, geschrieben und neu gedruckt werden. Die Vervielfältigungsmaschinen, per Zug nach Rom gebracht, durften jedoch nur im feuchten Keller stehen, da sie sonst Tinte an die historischen Wandgemälde des Hauses gespritzt hätten. Die frisch vervielfältigten Textversionen wurden über Nacht zum Trocknen ausgelegt – und am Morgen von einer ahnungslosen Putzkolonne für Abfall gehalten und entsorgt.

Da auch die Hilfskräfte, von der Universität bereitgestellte Studentinnen und Studenten, zwischenzeitlich in einen Streik getreten waren, blieb Breuer und seinen Leuten am Tag der Unterzeichnung nichts anderes übrig, als unbedruckte Papierstapel auf die Tische der Staatsmänner zu legen. Lediglich Deckblatt und Rückseite waren echt.

Die turbulenten Tage von Rom zeigten schon vieles von dem, was Europa in den vergangenen sechs Jahrzehnten ausgemacht hat: Die Interessen mehrerer Staaten unter einen Hut zu bekommen ist harte Arbeit und erfordert einiges an Organisationstalent. Aber am Ende steht immer ein Kompromiss, ein Vertrag, ein gemeinsamer Schritt nach vorn. Die Zukunft ist offen, ein leeres Blatt Papier, das beschrieben, korrigiert und wieder neu gedruckt wird. Europa bleibt, auch nach 60 Jahren, ein unvollendetes Projekt, dessen Seiten von den Akteuren mit Leben gefüllt werden müssen.

© Torsten Meise, 2017

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