Erschienen in: Agenda Edition No. 2 Mensch + Strom, Hoffmann & Campe, 2004.
Auszeichnungen des Corporate Books: Good Design Award, IF communication design award

 

Mit Licht und Schatten gestalten

Von Torsten Meise

Um sein vierzigstes Lebensjahr, als er bereits ein renommierter Londoner Maler und Professor für Perspektive an der Royal Academy war, tat Joseph Mallord William Turner (1775-1851) etwas ganz Wunderbares: Er begann, das Licht neu zu erfinden. Jahr für Jahr ignorierte er die geltenden Regeln der Landschaftsmalerei ein wenig mehr und ersetzte die Szenarien durch grandiose Farb- und Lichtsphären, hinter denen sich die Gegenstände aufzulösen schienen. Auch wenn die wenigsten seiner Zeitgenossen dem beigepflichtet hätten: Er schuf ein neues Bild der Wirklichkeit.

Ein paar Jahre später erfand Heinrich Göbel in New York die Glühbirne. Aber der Deutschamerikaner verstand nicht, mit welch zukunftsträchtigem Gerät er da die Schaufenster seines Uhrmacherladens an der Monroe Street erhellte. Und so blieb es Thomas Alfa Edison überlassen, 1879 die Glühbirne ein zweites Mal zu erfinden. Wenn Turner mit einer neuen Auffassung von Licht das ästhetische Bewusstsein einer Elite verändert hatte, revolutionierte Edison den Alltag der Menschen. Statt mit Tranfunzeln und Gasleuchtern durch die Nacht zu irrlichtern, gab die Glühbirne den Menschen die Freiheit, sich von der naturgegebenen Dunkelheit zu emanzipieren.

Agenda Edition No. 2 – Mensch + Strom
Agenda Edition No. 2 – Mensch + Strom

Doch 125 Jahre später ist es Zeit für eine neue Revolution. Bruce Sterling, einer der einflussreichsten US-Technik-Journalisten, setzte die Glühbirne kürzlich auf seine Top-10-Liste derjenigen Technologien, die möglichst bald verschwinden sollten. Denn sie geht nicht nur dauernd kaputt, sie verschwendet auch Strom. 90 Prozent der eingesetzten Energie verpuffen als Wärme, nur 10 Prozent werden in Licht verwandelt.  Nicht umsonst gilt die Glühbirne als „Temperaturstrahler“. In den Katalogen professioneller Lichtausstatter ist die Glühbirne schon lange nicht mehr zu finden. Aber der Abschied fällt schwer. Bis heute sind Glühbirnen im privaten Bereich das mit Abstand beliebteste Leuchtmittel. Neue, in den vergangenen Jahrzehnten entwickelte Technologien wie Leuchtstoffröhren oder Halogenlampen konnten die Glühbirne bisher nicht wirklich verdrängen.

Künstliches Licht fördert das Wohlbefinden im Alltag

Wo falsch beleuchtet wird, keine Schatten dem Raum Struktur geben, ist der Mensch schnell irritiert und fühlt sich unwohl. Denn er ist ein Lichtwesen. 80 Prozent seines Gehirns sind allein damit beschäftigt, optische Signale zu verarbeiten. Weil Licht so wichtig ist, spielt es in der Architektur eine besondere Rolle. Mit welcher Helligkeit und Mischung aus Tages- und Kunstlicht ein Angestellter arbeiten soll, legen Normen fest. Aber Architekten und Raumgestalter wollen mehr: ein intelligentes, ergonomisches und leistungsförderndes Licht, das die Sinne positiv anspricht und die Qualität von Architektur ergänzt.

Der deutsche Lichtdesigner Michael Rohde hat internationale Preise für seine wegweisenden Arbeiten erhalten: In einem Neubau der Ärztekammer in Berlin kombinierte er direktes weißes Licht mit indirekter Beleuchtung, die in Helligkeit und Farbton variiert werden kann. Je nach Funktion, aber auch nach Tageszeit werden die Büroräume in unterschiedliche Farben und Stimmungen getaucht: Rot zum Beispiel erhöht die Aufmerksamkeit, Herz- und Atemfrequenz, Blau wirkt eher entspannend.

Licht und Schatten sind wichtige Bestandteile der Kommunikation

Licht kann stilprägend sein und viele Botschaften tragen. Das spanische Modelabel Zara zum Beispiel hat sich von dem Beleuchtungsspezialisten Erco ein Corporate-Light-Konzept maßschneidern lassen. Alle 600 Zara-Läden zwischen Barcelona, Mailand, Berlin, London und New York sind nach demselben Muster ausgeleuchtet. In den Stores sorgt eine exakt abgestimmte Mischung aus Allgemeinbeleuchtung, akzentuierten Deckenlichtern und Richtstrahlern für hohen Sehkomfort und Aufenthaltsqualität. Besonders markant ist die Gestaltung der Schaufenster mit ihren reduzierten, aber in dramatisches Licht getauchten Inszenierungen. Die „Ausstrahlung“ dieses Designs ist so groß, dass Zara kaum mehr in Anzeigen oder Plakate investieren muss.

Seit Mitte der 90er Jahre buhlen immer mehr Städte und Sehenswürdigkeiten mit Lichtorgien um Aufmerksamkeit. Paris etwa beleuchtet seinen Eiffelturm einmal stündlich mit 20000 Speziallampen. Zunächst war das Spektakel lediglich für die Millenniums-Feierlichkeiten gedacht. Doch der Erfolg war so umwerfend, dass die Stadt beschloss, eine Dauerinszenierung daraus zu machen. Auch Turin lockt jeden Winter Touristen mit phantasievollen Lichtinstallationen, die sich durch die ganze Innenstadt ziehen. In Hamburg leuchtet nachts die historische Speicherstadt, und im Ruhrgebiet tauchte man ein ehemaliges Duisburger Stahlwerk in Licht, um den Menschen des früheren Kohle- und Stahlreviers den Aufbruch in eine neue Zukunft zu signalisieren. Denn Licht verändert das Bewusstsein.

Lyon hat eine besonders lange Tradition des Lichts. Bereits 1852 hatten sich die Bürger dieser Stadt entschlossen, zu Ehren der Dunkelheit des Winters alle Fenster zu beleuchten, immer am 8. Dezember. Entlang dieses „Festivals des Lichts“, das bis heute gefeiert wird, hat sich die Stadt umgestaltet: Ein 1989 umgesetztes öffentliches Beleuchtungskonzept ist mit seinen 250 illuminierten Plätzen und Gebäuden zum Rückgrat der Stadtentwicklung geworden.

Bürgermeister aus der ganzen Welt kommen, um sich in Lyon „erleuchten“ zu lassen. Auch die Frankfurter waren da. Die deutsche Finanzmetropole, deren beleuchtete Pyramide auf der Spitze des Messeturms zum Wahrzeichen geworden ist, veranstaltet alle zwei Jahre die Luminale, eine gigantische Show, für die internationale Künstler wie Brian Eno grandiose Phantasmagorien verwirklichen dürfen. Unterstützt wird das Vorhaben durch die großen Banken der Stadt, die mit immer grandioseren Lichtspektakeln einander Konkurrenz machen. Die Dresdener Bank engagierte für ihren Galileo-Tower den berühmtesten zeitgenössischen Lichtkünstler, den Amerikaner James Turrell.

James Turrell ist vielleicht der bemerkenswerteste Erbe William Turners. Er ist besessen von dem Wunsch, seinem Publikum das Licht als etwas ganz Besonderes und Wertvolles nahe zu bringen. Sein Lebenswerk soll deshalb eine Lichtinstallation im Roden-Vulkankrater in Arizona werden. Seit 1972 gräbt Turrell hier Vertiefungen und Tunnel in das Gestein, um das natürliche Spiel von Licht und Schatten anschaulich zu machen. Wie zu Zeiten der Urvölker sollen die Menschen durch das Kunstwerk mit dem Licht des Kosmos in Berührung kommen.

Die Zukunft gehört der Leuchtdiode

Seit fast hundert Jahren bekannt, aber erst seit kurzem perfektioniert, lässt sich mit ihr alles Erdenkliche anstellen: Sie strahlt hell, hält sehr lange, lässt sich elektronisch ansteuern und ist extrem effizient. Für dieselbe Lichtausbeute benötigt sie nur fünf Prozent der Energie einer Glühbirne. Aus roten, blauen und grünen Leuchtdioden lassen sich außerdem alle erdenklichen Farben mischen. Lichtdesigner haben leuchtende Schränke und Mood-Lights entwickelt, die sich farblich den persönlichen Stimmungen oder dem räumlichen Ambiente anpassen. Sie öffnen den Horizont für eine revolutionäre Zukunft, in der der Mensch ökonomischer, ökologischer und kreativer als jemals zuvor mit Licht und Schatten gestalten kann.

Es wird also wieder einmal Zeit, das Licht mit anderem Augen zu sehen.

 

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