Portrait Arcosanti Architekt Paolo Soleri | © Torsten Meise 2008

Arcosanti-Architekt Paolo Soleri | © Torsten Meise

Den folgenden Text habe ich für ein Corporate Book des Heizungsspezialisten Viessmann geschrieben. Der Text wurde 2010 mit dem ERM-Medienpreis für nachhaltige Entwicklung ausgezeichnet.

Von Torsten Meise.

Von den Indianern lernen – Heizen und Kühlen in der Zukunft

Ein CO2-freies Ökotopia bei San Francisco, energieautarke Siedlungen in China, eine mit Solarstrom gespeiste Forscherstadt in der Wüste von Abu Dhabi – vielerorts in der Welt nehmen Utopien konkrete Gestalt an. Oft helfen historische Bautechniken, die Energieeffizienz zu steigern.

Wie Leuchttürme sollen glitzernde Hochhäuser die Blicke vom gegenüberliegenden Ufer auf sich ziehen. Gleich nebenan ist noch Platz für einen Biobauern, der Gemüse für das Gemeinwesen produziert und im Gegenzug Abfälle der Bewohner als Dünger verwertet. Das Baugelände ist überschaubar. 2,5 Quadratkilometer groß ist „Treasure Island“, die „Schatzinsel“ gegenüber der amerikanischen Westküstenmetropole San Francisco. Ab 2011 soll hier, so versprechen die Planer, die „nachhaltigste Stadt auf dem Planeten“ erbaut werden, einer der grünsten Hotspots unter allen ökologischen Stadtutopien, die derzeit rund um die Welt geplant und realisiert werden.
Zur Weltausstellung 1939 wurde das künstliche Eiland vor San Francisco einst aufgeschüttet. Bis 2022 soll auf der etwas heruntergekommenen ehemaligen Marinebasis ein CO2-freies Ökotopia entstehen. Die Anlage, geplant für 13 500 Bewohner, soll ausnahmslos in raum- und energiesparenden Bauweisen errichtet werden, mit überwiegend autofreien Verkehrswegen und sauberer Energiegewinnung aus Sonne und Wind. Alle neuen Gebäude der umweltfreundlichen Retortensiedlung, entworfen von den weltweit führenden Hochhaus-Architekten Skidmore, Owings & Merrill in Chicago, werden dem anspruchsvollen amerikanischen LEED-Gold-Standard für nachhaltiges Bauen entsprechen.
Treasure Island wird weitgehend energieautark sein. An guten Tagen soll die Insel so viel Energie produzieren, dass überschüssiger Strom ins Netz eingespeist werden kann. Um möglichst effizient zu bauen, haben sich die Planer eine Menge Tricks einfallen lassen. Auf der Basis von Klimadaten wird das gesamte Straßennetz so gestaltet, dass Plätze, Wege und Gebäude möglichst vor Wind geschützt und die Fassaden optimal auf die Sonne ausgerichtet sind.
70 Prozent der Dachflächen sollen mit Photovoltaikanlagen bestückt werden. Sensoren in den Gebäuden werden die Klimatisierung steuern und über verschiedene Mechanismen an die jeweilige Wettersituation anpassen. Unterm Strich soll die erhöhte Energieeffizienz beim Heizen und Kühlen der Gebäude zusammen mit einer drastischen Reduzierung des Autoverkehrs den Ausstoß von CO2, verglichen mit konventioneller Bebauung, um 60 Prozent verringern.

Die kalifornische Öko-Insel steht als Symbol für einen grünen Aufbruch an Orten, an denen die Verschwendung von Ressourcen bislang zum allgemeinen Lebensstil gehörte. Architekten erhalten die Chance, die Herausforderung anzunehmen und den großen Wurf zu wagen. Jared Blumenfeld, Chef der Umweltbehörde von San Francisco, umschrieb es so: „Wenn wir noch einmal ganz von vorn, beim weißen Blatt ­Papier, anfangen könnten, wie würden wir bauen?“ Treasure Island liefert die Antwort.

ALTERNATIVE ENERGIEN SOLLEN DEN SCHEICHS DEN DOLLARSEGEN ERHALTEN

Aber auch in den reichen Ölstaaten am Golf und in aufstrebenden Schwellenländern wie China, das die ökologischen Folgen seines stürmischen Wachstumskurses massiv zu spüren bekommt, werden die ersten Blaupausen des weltweiten Wettlaufs um die nachhaltigste Utopie bereits verwirklicht.

Ein spektakuläres Beispiel ist die Wüstenstadt Masdar, die der britische Stararchitekt Sir Norman Foster in Abu Dhabi realisiert. In der am Reißbrett entworfenen, zunächst auf sechs Millionen Quadratmeter angelegten grünen Musterstadt mit Universität, Instituten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen wird es keine Benzinautos und keine Treibhausgase geben. Masdar soll ausschließlich mit sauberer Energie versorgt, das geplante „größte Solarkraftwerk der Welt“ durch Windräder ergänzt werden; geothermische Anlagen tragen zur Kühlung der Gebäude bei.
In Masdar will das Emirat seine Forschungsaktivitäten zum Thema alternative Energien konzentrieren, die den Scheichs für die Zeit nach dem Öl den gewohnten Dollarsegen erhalten sollen. 22 Milliarden Dollar sind eingeplant, um die Retortenstadt bezugsfertig zu machen. Irgendwann nach 2020 – der ursprüngliche Zeitplan musste wegen der Immobilienkrise aufgegeben werden –  soll es den 50 000 Bewohnern an keinerlei Komfort mangeln, auch wenn sie auf herkömmliche Autos verzichten und den Abfall der Stadt komplett recyceln müssen, um der Vision einer Öko-Oase in der Wüste gerecht zu werden.

Gleich 80 Ökostadt-Projekte will China derzeit realisieren. Diese sind zwar von unterschiedlicher Qualität, werden aber international wachsam beobachtet. Denn wie in allen Bereichen agiert das Reich der Mitte auch hier mit einer extrem steilen Lernkurve. Dies zeigt sich zum Beispiel am kurzen und schmerzlosen Scheitern von Dongtan. Geplant als zentraler Beitrag zur chinesischen EXPO 2010 in Shanghai, sollte sich die Retortenstadt auf Chongming, eine Insel in der Mündung des Yangtse, zur autarken Null-Emissionsstadt für zunächst 5000, später dann für bis zu einer halben Million Menschen entwickeln. Für Chongming wiederum, mit knapp 1300 Quadratkilometern immerhin die zweitgrößte Insel Chinas, gab es einen Masterplan, der sie in ein Treasure Island im Riesenformat, etwa halb so groß wie das Saarland, verwandelt hätte. Doch dieses Vorhaben war dann selbst für das modernisierungsgierige China zu gigantomanisch. Nach vier Jahren der Planung – ebenfalls übrigens durch Skidmore, Owings & Merrill in Chicago – landeten die Dongtan-Pläne über Nacht im Papierkorb. Die Insel Chongming wurde stattdessen zum Naturschutzgebiet erklärt.
Experten wie der in Australien lehrende Architekturprofessor Steffen Lehmann, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Nachhaltige Stadtentwicklung in Asien, sehen im Scheitern von Dongtan keinesweg einen Rückschlag, sondern eher einen Fortschritt. Schließlich werden die zentralen Themen Dongtans – Verkehr, Energieversorgung, Abfallkreislauf – in viele neue Ökostadt-Projekte einfließen. Und statt „von oben“ eine völlig neue Stadt am Reißbrett zu entwerfen, beginnt China mittlerweile damit, Erneuerungsprojekte weniger autokratisch und sogar zusammen mit den Bewohnern zu entwickeln. Neues Vorzeigeprojekt der chinesischen Regierung ist dabei die Stadt Wanzhuang in der Nähe von Peking. Mehrere Dörfer mit heute 100 000 Bewohnern sollen innerhalb von 20 Jahren zusammenwachsen, die Einwohnerzahl soll sich dabei vervierfachen. Energie soll die neue Großstadt aus Wind, Sonne, Erdwärme und Biomasse schöpfen. Und wichtig für China: Wanzhuang wird über den öffentliche Nahverkehr eng mit den Nachbarstädten vernetzt sein. Wachstum, so die neue Botschaft, soll eher aus tausend Blumen erblühen statt mit einem Pinselstrich entworfen werden.

UNSERE STÄDTE SIND MONSTER, DIE ÖKOLOGISCHE ZERSTÖRUNGSKRAFT FREISETZEN

So wie Treasure Island ein Vorbild für die von Asphaltwüsten geprägten Städte der USA sein soll, so will China mit seinen Öko-Städten ein Labor für die Megacitys Asiens errichten. Masdar wiederum soll beweisen, dass es auch unter widrigsten Klimabedingungen möglich ist, eine nachhaltige Stadt zu realisieren. Die Rezepte der auf den ersten Blick höchst unterschiedlichen Modelle gleichen sich dabei auf überraschende Weise: Höhere Energieeffizienz, höhere Dichte, fußläufige Verbindungen, gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr, intelligentes Ressourcenmanagement, lokale und regionale Kreislaufwirtschaft stehen überall auf der Agenda ganz oben. Würden diese Prinzipien weltweit beherzigt, wäre das ein wesentlicher Schritt, den Klimawandel zu begrenzen und die unheilvolle Verschwendung natürlicher Ressourcen einzudämmen. Denn die Zukunft des Ökosystems Erde wird in den Städten entschieden.
Schon heute verbrauchen Stadtbewohner 75 Prozent des globalen Energieaufkommens und erzeugen 80 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Und der Anteil wird weiter steigen. Heute lebt etwa die Hälfte der Erdbevölkerung in Städten, im Jahre 2030 werden es nach UN-Berechnungen bereits 60 Prozent (in absoluten Zahlen: fünf Milliarden Menschen) sein. Vor allem die Agglomerationen Asiens, Afrikas und Südamerikas wachsen im Rekordtempo. Dabei geht schon jetzt die Entwicklung von der einzelnen Megacity hin zur „Megaregion“ nach dem Muster des Dreiecks Hong Kong, Shenzen, Guangzhou, das es gemeinsam auf 120 Millionen Einwohner bringt und mit seiner Gravitation nicht nur die Weltwirtschaft massiv beeinflusst, sondern auch ganz neue ökologische Herausforderungen produziert. Eine urbane Infrastruktur oder gar „grüne“ Planungen erscheinen in diesen Wachstumsräumen ebenso wie in den schon bestehenden Megacitys reine Utopie.
Dabei hat die Stadt eine historische Wandlung erfahren. War sie im Laufe des gesamten Zivilisationsprozesses ein Raum des Schutzes und das Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung und Organisation, so wirkt die Stadt der Gegenwart vor allem wie ein hungriges Ungeheuer. Die großen Städte sind Monster geworden, deren soziale und ökonomische Anziehungskraft genauso groß ist wie die ökologische Zerstörungskraft, die sie freisetzen. Als System haben die Megacitys längst eine Gravitation entwickelt, die kaum noch Widerstand zulässt. Damit der Leviathan am Leben bleibt, werden Ressourcen – Wasser, Energie, Lebensmittel – von weit her herangekarrt, umgewandelt und wieder ausgespuckt: ein geradezu industrieller Prozess der Ressourcenvernichtung, der die Kapazität des Planeten bereits heute übersteigt und längst angefangen hat, die Substanz – Bodenschätze, Landschaften, Ökosysteme, Tier- und Pflanzenarten – zu vernichten. Eine Rückkehr auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad kann es nicht geben, ohne das Modell der Stadt einer grundlegenden Revision zu unterziehen.
Einer, der diese Botschaft seit fünf Jahrzehnten predigt, ist der italoamerikanische Architekt Paolo Soleri. Er ist, wenn man so will, der geistige Ziehvater von Masdar und Treasure Island. Seit den späten 1950er Jahren kritisiert Soleri, ein Schüler von Frank Lloyd Wright, das Wesen der amerikanischen Stadt und die mit ihr verbundene Verschwendung von Energie und Raum. 1970 begann er damit, seinen privaten Gegenentwurf zu bauen: Arcosanti, eine kleine Ansammlung seltsam anmutender Gebäude in der Wüste von Arizona. Eine Stadt sollte es werden für 50 000 Menschen, doch bis heute sind es kaum 50, die hier wohnen. Der Grund: Soleri fehlt es an Geld.
Der inzwischen Neunzigjährige, ein dünner, zerbrechlich wirkender Mann, kämpft noch immer für seine Ideen. Jeden Mittwochnachmittag lädt er zur offenen Gesprächsrunde nach Arcosanti. Das etwa 20-köpfige Publikum seiner „School of Thought“ besteht größtenteils aus jungen Architekturstudentinnen, die aus New York, Chicago, Mailand oder Neapel kommen und hier für jeweils fünf Wochen leben, lernen und arbeiten. Soleris sanfte Stimme ist so schwach, dass er ein Mikrofon benutzt, damit man ihn versteht, wenn er den Kontrast zwischen hunderttausend Jahren Menschheitsgeschichte und einem Jahrhundert technischer Zivilisation beschreibt. „Materialismus ist per Definition die Antithese zu Grün“, lässt sich der Architektur-Guru vernehmen. „Unser natürlicher, uns eingeborener Wille zur Selbstbehauptung ist fehlgeleitet in einen grenzenlosen Konsum. Das ist an sich noch nichts Böses, aber wenn es massenhaft auftritt, führt es in die Katastrophe.“
Soleris philosophische Gedankengänge kreisen um den von ihm ersonnenen Begriff der Arkologie (Arcology), eine Kombination aus Architektur und Ökologie. Was ihm vorschwebt, sind abgeschlossene, weitgehend umweltneutrale Gebäudekomplexe, in denen die Bewohner alle wichtigen Funktionen vorfinden und in denen Stoffkreisläufe sowie der effiziente Umgang mit Energie zu den zentralen Grundprinzipien zählen. Anders als die Planung in USA-typischen Städten, in denen Häuser rund um die Uhr elektrisch klimatisiert werden, passen sich Arcology-Entwürfe an die geographischen und klimatischen Bedingungen der Umwelt an mit dem Ziel, den Energiebedarf zum Heizen und Kühlen zu minimieren.
Damit hat Soleri einen Trend der zukunftsfähigen Architektur vorweggenommen: die Wiederentdeckung traditionellen Wissens über den Einfluss der Umwelt auf die Funktion der Gebäude. Statt mit aufwendigen technischen Installationen gegen das lokale Klima anzuheizen oder anzukühlen, sollen historische Bauprinzipien helfen, die Energieeffizienz zu steigern.
Im heißen Arizona ließ sich Soleri dabei von den indianischen Ureinwohnern inspirieren, die ihre Häuser in die Steilklippen der Canyons hineinbauten. Die sogenannten Cliff Dwellings wurden so ausgerichtet, dass sie während der heißen Sommer beschattet, im Winter jedoch von der tieferstehenden Sonne erwärmt wurden. Damit sind die Höhlenbauten 1000 Jahre alte Vorläufer dessen, was heute als Passiv- oder Nullenergiehaus in Mode kommt.
Auch Norman Fosters Entwurf der Wüstenstadt Masdar hat solche Vorbilder. Über viele Jahrhunderte bauten die Bewohner der Sahara ihre Städte auf ähnliche Weise, wie Foster es nun wieder tun will: Hinter hohen Mauern stehen die Häuser so eng beieinander, dass in die Straßen nur wenig Hitze eindringen kann. Die frühen europäischen Saharareisenden berichteten erstaunt von der Wüstenarchitektur, wenngleich sich ihre Begeisterung darüber in Grenzen hielt.

ARCHITEKTEN NEHMEN KEINE RÜCKSICHT MEHR AUF WETTER, WIND UND SONNE

Als der Bremer Afrikaforscher Gerhard Rohlfs Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Monate in Ghadames, heute eine algerisch-libysche Grenzstadt, zubringen musste, war er froh, ein Haus vor den Toren zu ergattern. „Es wäre schrecklich gewesen“, schreibt er, „hätte ich in der engen, dumpfen Stadt wohnen, am Tag durch die finsteren Straßen tappen müssen und nachts nicht einmal auf dem Dach des Hauses verweilen dürfen.“ Solche Beklemmungen will das Foster-Team vermeiden, gleichwohl werden die Londoner Architekten die schattenspendende Bauweise aufnehmen und so weiterentwickeln, dass es einen erstaunlichen mikroklimatischen Effekt ergibt: Im Vergleich zur 30 Kilometer entfernten Abu Dhabi City, in der die Temperaturen tagsüber oft bei 50 Grad Celsius liegen, soll es in den Straßen von Masdar um bis zu 20 Grad kühler sein.
Öko-Projekte wie Masdar beziehen sich auf extreme und eher exotische Umweltsituationen. Dennoch sehen Experten darin die Wegbereiter eines längst überfälligen Trends. „Seit es Elektrizität gibt, haben Architekten sich angewöhnt, Häuser ohne Rücksicht auf Wetter, Wind und Sonnenlicht zu konstruieren, doch das ändert sich gerade wieder radikal“, erläutert Maria Stamas, Forscherin am amerikanischen Rocky Mountain Institute. Sie prophezeit eine Rückkehr jener Prinzipien, deren sich die Menschen in vorelektrischer Zeit bedient haben. Auch sie bezieht sich in ihrer Argumentation auf die Cliff Dwellings der Indianer. Das Rocky Mountain Institute ist eine Gründung von Amory B. Lovins, der seit den 1970er Jahren die Ideen von Soleri und anderen aufgegriffen und in die öffentliche Diskussion gebracht hat.
1976, als die Welt noch unter dem Eindruck der erste Ölkrise von 1973 stand, veröffentlichte Lovins in der Zeitschrift Foreign Affairs einen vielbeachteten Essay unter dem Titel „The Road Not Taken“, ein Plädoyer für einen sanften Entwicklungspfad und die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien. Später prägte er den Begriff „Negawatt“, um das ökonomische Potenzial effizienter Energienutzung plausibel zu machen:  Statt immer neue Kraftwerke zu errichten, sollte besser in Energiespartechnologien investiert werden. Dabei geht es Lovins beim Energiesparen nicht um Komfortverzicht, sondern vor allem um eine höhere Energieproduktivität. „Die Menschen wollen keine Kilowattstunden“, erläuterte er seinen Denkansatz, „sondern warmes Wasser zum Duschen und kaltes Bier.“ Wie also schafft man es, mit dem gleichen Energieeinsatz mehr Leistung zu erzeugen?
„Ich kenne keine Branche, in welcher nicht eine Vervierfachung der Energieproduktivität erreichbar wäre“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker, langjähriger Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie; 2008 wurde er für sein Lebenswerk mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet. Gemeinsam mit Lovins schrieb er den Öko-Bestseller „Faktor vier“, in dem es um die Steigerung der Energieeffizienz in allen Lebensbereichen geht. Am leichtesten, so von Weizsäcker, sei das Ziel einer vierfach höheren Energieproduktivität im Bereich des Bauens und Wohnens zu erreichen, zum Beispiel durch die energetische Sanierung von Altbauten oder durch den Neubau energiesparender Gebäude. „Das Passivhaus“, rechnete der Physiker vor, „ist gegenüber herkömmlichen Neubauten um etwa den Faktor zehn energieeffizienter.“
Amory Lovins und das von ihm 1982 gegründete Rocky Mountain Institute (RMI) arbeiten mit zahlreichen Industrieunternehmen zusammen, um Einsparpotenziale zu finden. Die Möglichkeiten des Passivhauses hat Lovins gleich selbst ausgetestet, indem er für das Hauptquartier des RMI ein solches Energiesparhaus entwickelte. Bis heute berichtet Lovins in seinen Vorträgen stolz, dass er in dem 2200 Meter hoch in den Bergen von Colorado gelegenen Gebäude sogar Bananen erntet, ohne das Haus zu heizen. Bis zu 70 Prozent Energieeinsparung gegenüber konventioneller Bauweise hält Lovins fast überall für möglich. Gemeinsam mit dem Einsatz moderner Energieerzeuger könnten solche Bauwerke – Wohnhäuser wie Fabriken – sogar einen Überschuss an sauberer Energie erzeugen.

BÜROANGESTELLTE ERWARTEN EINEN ARBEITSPLATZ, DER WOHL­TEMPERIERT IST

Die Neubesinnung von Architekten und Städteplanern kommt der Selbstverpflichtung vieler Staaten und Kommunen entgegen, mit Blick auf den Klimawandel ihren Ausstoß von Treibhausgasen in den kommenden zwei Jahrzehnten radikal zu senken. Die Europäische Union will bis zum Jahr 2020 mindestens 20 Prozent weniger Treibhausgase in die Atmosphäre blasen als 1990. Noch ehrgeizigere Pläne verfolgen einige Städte. London etwa hat sich in einem „Climate Change Action Plan“ vorgenommen, im Jahr 2025 rund 60 Prozent weniger CO2 zu emittieren als 1990. Eine Siemens-Studie zu diesem Projekt, die 2008 vorgestellt wurde, hält das Ziel für erreichbar – vorausgesetzt, der Energieverbrauch der Gebäude in der britischen Metropole kann radikal gesenkt werden. Zwei Drittel der CO2-Emissionen Londons stammen aus dem Gebäudebestand, der größte Teil davon entsteht beim Heizen und Kühlen.
Von den 20 Megatonnen CO2 pro Jahr, die London mit dem Klimaschutz-Plan einsparen möchte, wären laut Siemens-Studie 4,5 Megatonnen durch optimierte Gebäudeisolierungen erreichbar. Weitere Einsparungen in Höhe von 2,1 Megatonnen könnte der Einsatz von Kraft-Wärme-Kopplung bringen. 70 Prozent aller notwendigen Investitionen, so die optimistische Botschaft der Studie, würden sich allein durch die erzielbaren Energieeinsparungen refinanzieren.

20 Prozent, 60 Prozent – warum eigentlich nicht gleich 100 Prozent? Ist es nicht denkbar, Städte vollständig klimaneutral zu machen? In einer weiteren Studie hat Siemens für München ein Szenario entwickeln lassen, das dies zum Ziel hat. Die 2009 erschienene Studie, ausgeführt vom renommierten Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, legt sehr detailliert dar, wie sich München innerhalb eines halben Jahrhunderts zu einer klimaneutralen Großstadt entwickeln könnte. Wichtigster Punkt auch hier: das Heizen und Kühlen sowie eine erhöhte Energieeffizienz. „Die größten Hebel zur Minderung der Emissionen“, so die Autoren, „sind die Wärmedämmung der Gebäude, der Einsatz effizienter Kraft-Wärme-Kopplung, sparsamer Elektrogeräte und Beleuchtungssysteme sowie die regenerative und CO2-arme Energieerzeugung.“ Einzelne Stadtteile, verspricht die Studie, könnten bereits in 30 Jahren CO2-arm sein.

Noch entwickeln sich die Energiebilanzen der meisten Städte jedoch in eine ganz andere Richtung. In den aufstrebenden Schwellenländern Asiens und Südamerikas ist es der steigende Lebensstandard, der den Bedarf nach Heiz- und Kühlsystemen in den Metropolen antreibt. In den hochentwickelten Industrienationen sorgt vor allem die Ausweitung des tertiären Wirtschaftssektors, also der Zuwachs an Dienstleistungen und Informationstechnologien, für eine steigende Nachfrage nach Klimatisierung. Anders als der Fabrikarbeiter in der Vergangenheit erwartet der Büroangestellte in westlichen Ländern (ebenso wie der Programmierer in Indien) einen Arbeitsplatz, der das ganze Jahr über wohltemperiert ist. Entsprechend ist der Aufwand für Büroklimatisierung in den vergangenen Jahrzehnten massiv gestiegen.
In einer Studie für den Schweizer Nationalfonds wurde kürzlich festgestellt, dass sich allein der durch Klimaanlagen verursachte Stromverbrauch im Land der Eidgenossen zwischen 1990 und 2005 verdoppelt hat. Die Autoren empfehlen als Gegenmaßnahme, bei Baumaterialien, beim Sonnenschutz und bei der Belüftung künftig stärker auf Erfahrungen aus südlichen Ländern zurückzugreifen. Vergleichbare Entwicklungen wie in der Schweiz schlagen sich auch in anderen postindustriellen Gesellschaften in den Statistiken nieder. Zum Beispiel in den USA: Noch 1980 war hier die Industrie der mit Abstand größte Kohlendioxid-Emittent. Heute stammen 40 Prozent der CO2-Emissionen aus Wohn- und Dienstleistungsgebäuden. Die Industrie ist, noch hinter dem Verkehr, auf Platz drei zurückgefallen.

VON EINSTEIN EIN WARTUNGSFREIER KÜHLSCHRANK, DER MIT WENIG STROM AUSKOMMT

Diese Zahlen belegen, dass die Art und Weise, wie Häuser und ganze Städte in Zukunft klimatisiert werden, eine entscheidende Einflussgröße beim Erreichen anspruchsvoller Klimaziele darstellt. Bisher wird unser Bedürfnis nach Wohlfühltemperaturen zu Hause und am Arbeitsplatz technologisch gesehen noch eher primitiv gestillt. Doch neben Planern, Architekten und Politikern denken auch Wissenschaftler und Ingenieure verstärkt darüber nach, wie sich das Problem des hohen Energieverbrauchs in Gebäuden durch neue Technologien lösen ließe:

  • Der Einsatz von Nanotechnologie könnte neue, optimierte Dämmmaterialien für die Isolierung von Gebäuden liefern. Erste Produkte befinden sich bereits in der Entwicklung und sollen konventionelle Materialien wie Glaswolle ersetzen.
  • Gleichfalls auf nanotechnologischer Basis werden sogenannte Smart Windows entwickelt. Sie können ihre Strahlendurchlässigkeit auf die Wetterbedingungen abstimmen, also mal mehr, mal weniger Licht und Wärme eindringen lassen. Insbesondere für die thermisch bislang kaum beherrschbaren Glaspaläste der Unternehmenszentralen könnten sich damit Lösungen eröffnen. Desgleichen denken Architekten und Ingenieure über „polyvalente Wände“ und „intelligente Fassaden“ nach. Erste Ideenskizzen solcher „Wände für jede Jahreszeit“ gab es schon in den 1980er Jahren.
  • Ausgefeiltere Regeltechnik beim Heizen und Kühlen kann weitere Energieersparnis bringen. Schon heute verbinden drahtlose Netze in vielen Gebäuden Computer, Telefone und TV-Geräte. Warum eine essenzielle und teure Wohnfunktion wie das Heizen und Kühlen immer noch – höchst ungenau und nur schlecht auf das tatsächliche Bedürfnis abgestimmt – über manuelle Drehrädchen statt über WiFi und smarte Thermostate gesteuert wird, gilt vielen Technikern als Rätsel.
  • Weiteres Sparpotenzial findet sich in elektrisch betriebenen Klimaanlagen. Wissenschaftler der Universität Oxford beschäftigen sich derzeit mit einem Patent Albert Einsteins, das lange Zeit als Kuriosität abgetan wurde: einem wartungsfreien Kühlschrank, der mit wenig Strom auskommt. Die Kühlung wird durch das Verdampfen von Alkohol erreicht. Bisher ist der Einstein-Kühlschrank eher ineffizient und sein Betrieb mit hohem Alkohol- und Wasserverbrauch verbunden. Die britischen Forscher hoffen, das Prinzip mit moderner Technik so weit optimieren zu können, dass sich stromsparende Kühlsysteme herstellen lassen.

Doch auf all diese Innovationen muss niemand warten. Denn – und das ist die gute Nachricht – die energetisch nachhaltige Stadtsiedlung ist schon auf dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung machbar. In ihr sind Gebäude optimal isoliert, rund 20 Prozent der verwendeten Energie stammen aus erneuerbaren Quellen und werden effizient eingesetzt, eine verbesserte, kleinräumige Infrastruktur macht den größten Teil des Autoverkehrs überflüssig, eine dichtere Bebauung reduziert den Landverbrauch.

Eine solche Siedlung, für welche die Techniken bereits am Markt verfügbar sind, ist gar nicht so weit entfernt von der Metropole des Jahres 2030, wie sie den Öko-Städtebauern vorschwebt und wie sie auf Zukunftsbaustellen wie Treasure Island, Masdar City oder Dongtan schon erprobt wird.


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