Im globalen Netz der Städte

Schon bald benötigen 10 Milliarden Menschen eine Bleibe, Jobs und eine Perspektive. Der notwendige Aufwand für Infrastrukturinvestitionen ist gewaltig, denn die meisten dieser Menschen werden in großen Städten leben. Die Zahl der Megacities, also jener Städte über 10 Millionen Einwohner, wächst bereits heute in einem bislang nicht bekannten Ausmaß. Ob und wie diese Riesenstädte funktionieren, ist von entscheidender Bedeutung.

Von: Torsten Meise

Während des Folk-Booms in den 1960er Jahren war der hübsche Washington Square Park im Süden Manhattans das Epizentrum der New Yorker Greenwich-Village-Bohème. Bob Dylan und viele andere Folksänger konnte man regelmäßig rund um den markanten Triumphbogen am Rande des Parks sehen und hören. Doch um ein Haar hätten sich die Musiker einen anderen Platz suchen müssen. Denn eigentlich sollte Mitte der 1960er Jahre bereits eine vierspurige Hauptverkehrsstraße durch den Park führen. Das jedenfalls war die Idee von Robert Moses, von dem man sagt, er sei der einflussreichste Stadtplaner des 20. Jahrhunderts gewesen.

Moses, 1888 als Sohn einer deutsch-jüdische Einwandererfamilie geboren, wurde zur Legende, weil er New York ins 20. Jahrhundert führte. Seine Parks, Brücken, Tunnel und Wohnprojekte prägen die Stadt bis heute. Er entwarf das Netz aus Stadtautobahnen und Schnellstraßen, die links und rechts an den Wasserseiten Manhattans verlaufen, die weithin sichtbare Verrezano-Narrows-Brücke zwischen Brooklyn und Staten Island (Gay Talese hat mit „The Bridge“ eine Meisterstück des New Journalism über den Bau geschrieben) und unendlich vieles mehr. Er war zur Stelle, als das Automobil den Stadtplanern ganz neue Dimensionen eröffnete. Endlich konnten Millionenstädte wie New York in die Breite wachsen. Menschen war es plötzlich möglich, weit außerhalb in den ruhigen Vororten zu wohnen und zur Arbeit in die City zu fahren. Der Pendler war geboren, das Automobil wurde zum Zentrum der Wünsche und Modernisten wie Moses schufen ihm den notwendigen Platz. Die Idee der „autogerechten Stadt“ war geboren.

Die Straße durch den Washington Square Park sollte eine Verlängerung der 5th Avenue werden und direkt zum neuen Lower Manhattan Expressway führen sollen. Für diese achtspurige Stadtautobahn wollte Moses mitten durch die quirligen Viertel Soho und Little Italy eine gewaltige Bresche schlagen und dabei ein paar hundert historische Gebäude abreißen – heute kaum noch bezahlbare Luxusimmobilien.

New York City. © Torsten Meise

„Niemand ist gegen meine Straßen, nur Hausfrauen.“

Moses vs. Jacobs

Doch diesmal hatte sich der mächtige Robert Moses, der auf dem Höhepunkt seines Einflusses gleich zwölf städtischen Park-, Tunnel- und Brückengesellschaften vorstand, verrechnet. Es war die Journalistin und Aktivistin Jane Jacobs, die seit Mitte der 1950er Jahre Nachbarschaftsinitiativen organisierte, um die intakten urbanen Strukturen in Greenwich Village vor der Zerstörung durch Großprojekte zu verhindern. Sie stand auch an der Spitze des Protestes gegen den Expressway und die Straße durch den Park.

„Niemand ist gegen meine Straßen, nur Hausfrauen“, schimpfte Moses, dem beim Bau von Brücken und Straßen jegliches Maß abhanden gekommen war. Doch die „Hausfrau“ Jacobs hatte mächtige Unterstützer wie die ehemalige First Lady Eleanore Roosevelt. Am Ende musste Moses klein beigeben, weder die Stadtautobahn noch die Verlängerung der 5th Avenue wurden gebaut. Moses hatte den Bogen überspannt, unbemerkt von den Büros der Planungsgesellschaften hatte eine Zeitenwende stattgefunden.

Das Buch „The Death and Life of Great American Cities“, das Jacobs auf Basis ihrer Erfahrungen schrieb, machte sie zur Ikone einer Bewegung, die Stadt anders definierte als durch die Augen eines Verkehrsplaners. Jacobs wurde zur Joan Baez der Urbanisten. Die Qualität von Gebäuden, Nachbarschaften, Plätzen, kleinräumigen Beziehungen standen bei ihr im Vordergrund. Die Mikronetze der Stadt traten in Konkurrenz zu den Makronetzen der Modernisten, die Bewahrung des Bestehenden und das auf Neubau programmierte Denken der Zeit entwickelten sich zu einer neuen Konfliktlinie, die sich bis heute in immer neuen Schattierungen dort zeigt, wo sich Orte von innen heraus erneuern müssen, wo Städte wachsen und wo Menschen ihren direkten Lebensraum bewusst gestalten möchten. Am Ende geht es um die Frage, wie sehen lebenswerte Städte aus? Was ist Urbanität? Wie wollen Menschen in Städten leben, die immer größer und immer technischer werden?

Lagos (Nigeria) wird von heute 10 Millionen auf dann unglaubliche 88 Millionen Einwohner wachsen, also mehr als ganz Deutschland in einer Stadt vereinen.

Die urbane Frage

In einer Welt, die zunehmend von riesiegen Metropolen geprägt wird, sind das wichtige Fragen. Vielleicht ist die Gestaltung von Städten sogar die größte Herausforderung, die Menschen im 21. Jahrhundert zu bewältigen haben. Denn Städte entwickeln sich zum „natürlichen Lebensraum“, zum neuen Habitat der Spezies Mensch. Schon jetzt sind über die Hälfte der Menschheit Städter, und ihre Zahl und ihr Anteil wachsen rasant. 2050 werden zwei Drittel aller Menschen in urbanen Räumen wohnen. Von jetzt vier Milliarden wird die Anzahl der Stadtbewohner auf dann über sechs Milliarden anwachsen. Fast überall auf der Welt werden die bestehenden Megastädte weiter wachsen, werden Millionenstädte in die Liga der Megastädte aufsteigen und werden wohl auch ganz neue Zentren entstehen. Das Wachstumstempo ist dabei noch höher als bislang angenommen. Das jedenfalls legt eine aktuelle Studie der EU-Kommission nahe. Sie basiert auf der Auswertung von Satellitendaten. Danach hat sich zwischen 1990 und 2015 die Bevölkerung von Stadtregionen in Afrika verdoppelt, in Asien ist sie um 1,1 Milliarden Menschen (2 x die Bevölkerung der gesamten EU) gestiegen.

Im Mittelpunkt dieser Entwicklung stand bislang China. Nach der wirtschaftlichen Öffnung Ende der 1970er Jahre sind die Städte im Reich der Mitte geradezu explodiert. Und die Entwicklung geht weiter, auch in den kommenden Jahrzehnten wird mit 300 Millionen neuen Städtern gerechnet. Dramatischer sogar sieht es noch in Indien aus. Bis 2050 erwartet man hier mit über 400 Millionen Menschen, die in die Städte kommen werden. Das ist ungefähr die Bevölkerung der USA und Kanadas. Blickt man noch weiter in die Ferne, rückt Afrika in den Mittelpunkt. Im Jahr 2100, so Prognosen des kanadischen Global Cities Instituts, werden die drei größten Städte der Welt auf diesem Kontinent liegen. Lagos (Nigeria) wird von heute 10 Millionen auf dann unglaubliche 88 Millionen Einwohner wachsen, also mehr als ganz Deutschland in einer Stadt vereinen. Kinshasa (Demokratische Republik Kongo) und Dar es Salaam (Tansania) werden eine ähnliche Größe erreichen. Das indische Mumbai könnte mit 67 Millionen Mennschen die viertgrößte Stadt werden.

Das Wachstum von Städten geht immer mit großen Herausforderungen einher, doch diese Form der Mega-Verstädterung stellt eine neue Qualität dar. Wie werden die neuen Weltmetropolen es schaffen, ihren Bewohnern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen? Wie werden sie die großen Probleme der Menschheit lösen: Armut, Gesundheit, Klimaschutz, soziale und wirtschaftliche Perspektive?

Städte wie Hamburg – dank des aus London geholten Ingenieurs William Lindley ein Vorreiter – begannen erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts damit, ihr Abwasser unterirdisch abzuleiten.

Vorbild Europa

Als die Metropolen der alten Welt im 19. Jahrhundert eine kritische Größe erreichten, erstickten sie beinahe in Dreck und Armut. London, damals Nabel der Welt und zum Beispiel in den Geschichten von Charles Dickens eindrücklich verewigt, fing schließlich an, in Infrastruktur zu investieren. Abwasserkanäle, Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung, der erste Tunnel unter einem Fluss, später die erste unterirdische Bahnstrecke – nur durch diese Investitionen konnte die Stadt überleben und weiter wachsen. Wer heute verächtlich auf die Metropolen der Entwicklungsländer schaut, hat ein kurzes historisches Gedächtnis. Städte wie Hamburg – dank des aus London geholten Ingenieurs William Lindley ein Vorreiter – begannen erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts damit, ihr Abwasser unterirdisch abzuleiten. Zuvor herrschten hier Zustände wie heute in den Slums von Lagos, Mumbai oder Sao Paulo. Die Kloake floss durch die Straßen in den Fluss, aus dem die Bewohner anschließend ihr Trinkwasser bezogen. Erst durch die gewaltigen Infrastrukturanstrengungen konnten sich die Metropolen und die Industrialisierung entwickeln und so das Modell einer Stadt ermöglichen, wie es in Europa und Nordamerika – mit Variationen – zum Standard wurde. Die Versorgung mit modernem Wohnraum, mit Energie und Wasser, Straßen, Nahverkehr, Bahnhöfe und Flughäfen – diese Ausstattung mit urbaner Hardware wurde im Laufe des 20. Jahrhundert perfektioniert.

Heute stehen die großen alten Metropolen wie London, Paris oder New York erneut vor einer Zeitenwende. Sie drohen am Verkehr zu ersticken. Das Straßennetz, das in der Auto-Euphorie des letzten Jahrhunderts ausgebaut wurde, entpuppt sich als nicht mehr zeitgemäß. Planer haben in der Zwischenzeit gelernt, dass mehr Straßen immer mehr Verkehr hervorbringen, außerdem ist es heute kaum noch möglich, in dicht besiedelten Räumen Platz für neue Straßen zu finden. Ballungsräume wie New York, London, Paris, die westlichen Niederlande oder das Ruhrgebiet bewegen sich mittlerweile werktäglich am Rande des Verkehrsinfarktes. Auch deshalb entwickeln die Vorreiter im Westen neue Mobilitätskonzepte.

Vor allem unter der Erde finden derzeit die größten Investitionen statt. London hat mit einer neuen, Crossrail genannten U-Bahn-Linie (17 Mrd. Euro, allein 42 km neue Tunnel) vorgelegt. Crossrail II ist bereits in Planung. In der französischen Hauptstadt läuft mit Grand Paris (26 Mrd. Euro, 200 km Streckennetz) ein noch gewaltigerer U-Bahn-Bau. New York hat gerade eine weitere Metrolinie eingeweiht (wenngleich der Rest des berühmten U-Bahn-Systems in eher erbärmlichem Zustand ist). Zusätzlich zu neuen Bahnlinien fördern die Städte neue Mobilitätskonzepte wie Ride-Sharing-Dienste und nutzen die Digitalisierung für clevere Services, die Car-Sharing, ÖPNV und andere Fortbewegungsmöglichkeiten verbinden. Auf dem Weg zur Smart City sind Städte wie Amsterdam, Barcelona, Helsinki oder Kopenhagen gerade dabei, in einem Open-Air-Labor die Zutaten für die Stadt der Zukunft zu mischen.

Kopenhagen © Torsten Meise

„Erst das Leben, dann der Raum, dann das Gebäude“

Musterschüler

Apropos Kopenhagen: Die dänische Hauptstadt ist immer einen intensiven Blick wert. Sie hat mit Jan Gehl einen Planer hervorgebracht, der heute auf der ganzen Welt verehrt wird. Gehl, einer der intellektuellen Erben Jane Jacobs’, gestaltet den Stadtraum für den Menschen, nicht für das Auto. Seine Maxime: „Erst das Leben, dann der Raum, dann das Gebäude“. Gehl möchte Städte „einladend“ machen und das menschliche Maß berücksichtigen. Sein Geist ist in Kopenhagen dort spürbar, wo im Sommer die Menschen am Wasser – auf ehemaligen Parkplätzen – in der Sonne liegen und im Hafenkanal baden, wo neue Stadtteile neben historischer Bausubstanz entstehen und die Hälfte der Bürger mit dem Rad zur Arbeit fährt, weil Radfahrer eigene Brücken und extrabreite Radwege haben.

Kopenhagen, das derzeit ebenfalls einen neuen U-Bahn-Ring baut, ist aber auch deshalb ein so spannendes Beispiel, weil die Tunnel-Brücken-Kombination über den Öresund, 2000 eröffnet, beispielhaft gezeigt hat, wie eine massive Investition in Infrastruktur enorme Entwicklungen lostreten kann. Nur wenige Jahre nach dem Bau „der Brücke“ geschah in Kopenhagen, vor allem aber in der im Niedergang befindlichen Stadt Malmö auf schwedischer Seite ein wahres Wirtschaftswunder. Kopenhagen und Malmö sind heute eng verbunden, Menschen pendeln über die Landesgrenze, die lange skeptisch beobachtete Verbindung ist heute ein Symbol für ganz Skandinavien. Wenn irgendwo auf der Welt die Ansätze von Robert Moses und Jane Jacobs konvergieren, dann am Öresund. Und wenn Dänemark Projekte wie den Fehmarnbelt-Tunnel finanziert und Finnland ernsthaft überlegt, einen Tunnel von Helsinki ins estnische Tallinn unter der Ostsee hindurch zu bauen, dann ist klar, welches Beispiel man hier vor Augen hat.

Städte, die organisch wachsen, weil sie über Handelsbeziehungen und wirtschaftliche Attraktivität Menschen anziehen, stehen in der Regel besser da als Metropolen, die durch Landflucht, Überbevölkerung und Armut getrieben sind.

Wachstums-Perspektiven

„Infrastruktur ist das beste Geschenk, das man einer Gesellschaft machen kann“, sagt Terry Hill, einer der führenden Infrastrukturexperten in Europa und ehemaliger Chef der globalen Beratungsfirma Arup. Doch sind die europäischen Erfahrungen auf die Metropolen in anderen Teilen der Welt übertragbar? Auch die Städte Asiens, Afrikas oder Südamerikas folgen derselben Logik: Zunächst muss die grundlegende Infrastruktur vorhanden sein, um anschließend Gestaltungsspielräume für die Entwicklung urbaner Qualität zu gewinnen. Doch gibt es hier einen entscheidenden Unterschied. Städte, die organisch wachsen, weil sie über Handelsbeziehungen und wirtschaftliche Attraktivität Menschen anziehen, stehen in der Regel besser da als solche Metropolen, die durch Landflucht, Überbevölkerung und Armut getrieben sind. Die chinesischen Megacities in den Wachstumsregionen haben vielleicht nicht das Höchstmaß an Urbanität, sind versmogt und werden vom Verkehr verschlungen, aber sie sind funktionierende Städte und beispielsweise über ein Schnellbahnsystem verbunden, die teilweise bereits besser und moderner ist als im alten Westen.

Es geht aber in den meisten Teilen der Welt nicht nur um den Verkehr. Viele Megacities haben bereits ein wesentlich grundlegenderes Problem: Wasser. Anfang 2018 berichteten Medien weltweit darüber, dass der südafikanischen Metropole Kapstadt zur Mitte des Jahres das Wasser ausgehen würde. Nach jahrelanger Dürre sind die Wasserspeicher, die die Stadt versorgen, weitgehend leer. Aber immerhin hat Kapstadt eine Wasserinfrastruktur, und sollte wieder Regen fallen, ist das Problem erst einmal vertagt. Ganz anders sieht es in der indonesischen Hauptstadt Jakarta aus. Nur die Hälfte der Bewohner ist an ein Versorgungssystem angeschlossen. Die andere Hälfte der Menschen in der 10-Millionen-Stadt bezieht ihr Wasser aus einzelnen Tiefbrunnen, die das Wasserreservoir unter der Stadt anzapfen. Weil die oberirdische Versiegelung verhindert, dass sich dieses Aquifer wieder durch Regenfälle auffüllt, fällt dessen Wasserstand kontinuierlich. Nicht nur, dass das Wasser irgendwann weg sein wird, ein Effekt ist auch, dass Jakarta langsam aber sicher versinkt. Weil unten Wasser fehlt, sinkt der Boden ab, das Meer nimmt sich die Küste. Ein riesiger Betonwall entlang der Wasserkante schützt bereits heute weite Teile der Stadt vor Überflutung. Doch je mehr Menschen in die Stadt kommen – bis 2050 könnten 15 Millionen Menschen hier wohnen, in der Metropolregion leben bereits heute weit über 30 Millionen – desto mehr wird sich die Entwicklung beschleunigen.

Nach Zahlen der Weltgesundheitsbehörde WHO sind derzeit die Trinkwasserressourcen von 2 Milliarden Menschen mit Fäkalien kontaminiert.

Ressourcenmangel

Das oftmals unterschätzte Problem der Wasserversorgung könnte schon bald 5 Milliarden Menschen betreffen, vor allem solche in Stadtregionen. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle World Water Development Report der Vereinten Nationen. Die Zahlen sind alarmierend. Auch durch Effekte des Klimawandels werden Mexiko, das westliche Südamerika, Südeuropa, China, Australien und Südafrika zukünftig häufiger von Dürreperioden heimgesucht werden. Zudem sinkt die Trinkwasserqualität in vielen dieser Regionen seit langem. Über 80 Prozent des industriellen und städtischen Abwassers, so der Report, würden immer noch ungeklärt abgeleitet. Nach Zahlen der Weltgesundheitsbehörde WHO sind derzeit die Trinkwasserressourcen von 2 Milliarden Menschen mit Fäkalien kontaminiert.

Mangelhafte Wasserversorgung, fehlende Abwassersysteme, Überflutungen, kritische Hygiene und sich daraus ergebende Krankheiten und Epidemien – in vielen Megastädten ist dies schon heute Alltag. Zu dem schlimmsten gehört die 14-Millionen-Metropole Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesch. Die laut UN Habitat am dichtesten besiedelte Megacity der Welt – über 44 000 Einwohner pro Quadratkilometer – steht regelmäßig unter Wasser. Auch weil die Siele zu klein und ständig verstopft sind. Arbeiter aus der untersten Kaste der Unberührbaren müssen dann ohne Schutz durch die Gullis abtauchen und die Kanäle mit einfachsten Mitteln wieder frei machen. Den „schlimmsten Job der Welt“ nannten das einige Medien.

Wie es auch ganz anders gehen kann, zeigt der asiatische Stadtstaat Singapur. Seit seiner Gründung 1965 hat sich Singapur zu einem der reichsten Länder der Welt entwickelt und gehört zu den Orten mit den höchsten Lebenshaltungskosten, bietet dafür aber auch eine vorbildliche Infrastruktur. Für die Wasserversorgung der 5,6 Millionen Einwohner wurden schon früh Kanäle und Tunnel in das Nachbarland Malaysia gebaut. Hinzu kommen mittlerweile vier Meerwasserentsalzungsanlagen. Der flächenmäßig kleinste Staat Asiens – kleiner als Hamburg – ist ein Vorbild in allen Bereichen der Stadtplanung und -entwicklung. Zum Beispiel im Nahverkehr. Das engmaschige, hochgetaktete U-Bahn-System muss international keinen Vergleich scheuen. Die Anzahl privater Pkw ist im Gegenzug seit Jahren limitiert.

Das Netz der Städte

Singapur ist aber auch ein sehr gutes Beispiel dafür, wie sich Städte über globale Beziehungen eine Stellung in der Welt erarbeiten und so kaum fassbare Entwicklungschancen erhalten. So hat sich Singapur als globaler Verkehrsknotenpunkt, als Handelsplatz im globalen Warenstrom, als bedeutender Finanzplatz und nicht zuletzt auch als touristische Destination etabliert. Singapur ist ohne Zweifel eine „globale Stadt“ in dem Sinn, wie es der britische Stadtforscher Greg Clark in seinem Buch „Global Cities“ definiert: eine Stadt, die sich über Handel, unternehmerisches Denken, Innovation, geopolitische Lage und vor allem Konnektivität eine besondere Stellung in der Welt erarbeitet hat.

Seit der Antike, so Clark, waren Handel und die Verbindung zum Rest der Welt die treibenden Kräfte, die Städte groß werden ließen. Heute sieht er, vor dem Hintergrund der Globalisierung, eine Renaissance der hochvernetzten Stadt. „Während es vor zwanzig Jahren vielleicht nur zehn oder fünfzehn globale Städte in den fortgeschritteneren kontinentalen Volkswirtschaften gab, gibt es heute mehr als fünfundzwanzig globale Städte in Europa, Nordamerika und dem asiatisch-pazifischen Raum sowie viele andere aufstrebende globale Städte in Lateinamerika und Afrika“, sagt Clark. Mit Blick auf das enorme Wachstum der Städte und städtischen Zentren stellt er fest: „Nicht alle diese Städte werden die Fähigkeit oder den Appetit haben, global zu werden, aber Diversifizierung bedeutet, dass mehr Städte auf jedem Kontinent internationale Funktionen übernehmen und ihre handelbaren Sektoren für den globalen Austausch positionieren.“

Singapur. Photo by Guo Xin Goh on Unsplash

Experten wie Greg Clark sehen die Weltordnung des 21. Jahrhunderts als ein Netzwerk großer Metropolen

Investition in Konnektivität

Während Nationalstaaten eher darauf ausgerichtet sind, Grenzen zu errichten, die Bewohner vor Gefahren von außen zu schützen und Identität über Gleichartigkeit zu definieren, sind die globalen Handelsstädte beinahe entgegengesetzt gepolt. Sie definieren sich über ihre Beziehungen mit Partnern, locken Waren und Menschen aus aller Welt und empfinden Grenzen eher als störend. Aus diesem Grund sehen Experten wie Greg Clark die Weltordnung des 21. Jahrhunderts als ein Netzwerk großer Metropolen und weniger als Konkurrenzveranstaltung von Nationalstaaten. Handel und Konnektivität werden damit mehr denn je zu Schlüsselkomponenten.

China hat dies wie kaum ein anderes Land verstanden. Seit Jahrzehnten investiert die asiatische Weltmacht beispielsweise in die Infrastruktur vieler afrikanischer Staaten und sichert sich dort mit neuen Eisenbahnlinien, Flughäfen, Straßen und Kraftwerken im Tausch nicht nur Zugang zu wichtigen Rohstoffen, sondern zu einem riesigen Markt der Zukunft. Neue Landverbindungen, etwa Gaspipelines nach Russland, und vor allem die auf 900 Milliarden Dollar ausgelegte „Neue Seidenstraße“, eine Transportverbindung auf der alten Ost-West-Handelsroute, sprechen Bände. Mit dem Kauf des Hafens von Piräus und dem zuletzt abgeschlossenen Handelsabkommen mit Österreich ist die Neue Seidenstraße bereits in Westeuropa angekommen. Das strategische Kalkül ist offensichtlich: Neue Eisenbahnverbindungen und Handelskorridore sind die Konnektivität, die der Welthandel braucht, und Multimillionstädte wie Gangzhou, Shenzen, Shanghai, Tianjin oder Beijing werden zu den Zentren dieser globalen Netzwelt.

Die grenzenlose Lust eines Robert Moses am Bau von Straßen und Brücken alleine führt in urbane Sackgassen.

Blick in die Zukunft

Da sich die alten Metropolen des Westens erneuern, die neuen Megacities in Asien, Afrika und Südamerika weiterhin enorme Wachstumsraten verzeichnen und die globalisierte Welt in immer stärkeren Maße neue Netze in und zwischen den Weltregionen aufbaut, summiert sich der Investitionsbedarf für Infrastruktur zu gigantischen Summen. Der Global Infrastructure Hub, eine Initiative der G20, schätzt die bis zum Jahr 2040 weltweit notwendigen Investitionen in Verkehr, Energie, Wasser und Telekommunikation auf 97 Billionen Dollar (97000 Milliarden).

Ein Großteil dieser Summe wird in die Ausgestaltung der Städte und die Verbindungen zwischen ihnen fließen. Wie dieses Geld eingesetzt wird, wem es zugute kommt, welche Ziele damit verfolgt werden, das gehört zu den entscheidenden Wegepunkten im 21. Jahrhundert. Bleibt ein Großteil der Megacities für die Menschen eine Welt, in der Armut, Unterernährung, mangelnde Bildung, Krankheiten und Perspektivlosigkeit herrschen? Oder können sie sich, wie die Städte der frühen westlichen Industriegesellschaften, durch sinnvolle Investitionen aus der Verelendung erheben und zu Orten der sozialen Freiheit, der Teilhabe und des Wohlstandes werden?

Wenn am Ende des 21. Jahrhunderts 10 Milliarden Menschen menschenwürdig leben sollen, und das größtenteils in Städten, dann müssen zunächst die Infrastruktur-Basics vorhanden sein. Ohne Netze für Wasser gibt es kein Überleben. Ohne Netze für Energie gibt es keine Wirtschaft. Ohne Verkehrsnetze gibt es keinen globalen Handel und keine Entwicklung. Ohne Kommunikationsnetze gibt es keine Globalisierung.

Doch die Lehren aus der Vergangenheit müssen ebenfalls verinnerlicht werden. Die grenzenlose Lust eines Robert Moses am Bau von Straßen und Brücken alleine führt in urbane Sackgassen. Einzelne prestigeträchtige Leuchtturm-Gebäude, wie sie in China beliebt sind, machen noch keine Weltstadt. Wer, wie Saudi Arabien, seine Jeddah Economic City als Satellitenstadt auf der doppelten Fläche des Saarlandes ausbreiten möchte, dem hilft auch nicht das – bereits in Bau befindliche – höchste Gebäude der Welt dabei, daraus eine vitale Stadt zu machen. Stadtentwicklung lebt auch vom „menschlichen Maß“, von urbaner Dichte und der kulturellen Kraft und Vielfalt – was den Unterschied macht zwischen einer großen Ansammlung von Häusern und echten Metropolen. Am Ende müssen Megacities nicht nur wachsen, sondern auch zu „Global Cities“ werden, die ihren Platz und ihre Rolle in der Welt finden und die Ansprüche ihrer Bürger ernst nehmen. Und nicht zuletzt haben globale Städte eine globale Verantwortung, der sie mit dem Streben nach Nachhaltigkeit und sozialem Ausgleich gerecht werden müssen, erst recht, wenn ein Großteil der Menschen Städter sind.

(2018)

Wer sich für die angerissenen Themen interessiert, hier eine kurze Liste mit der Literatur zum Text:

Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities, New York 1961

Robert A. Caro: The Power Broker. Robert Moses and the Fall of New York, New York 1974

Jan Gehl: Städte für Menschen, Berlin 2015

Greg Clark: Global Cities: A Short History, London 2016